Ludwig bremste ab, als er die Mitte der Allee erreichte und holte seinen Schlüssel hervor, um das vordere Tor aufzuschließen. Er stieg von seinem Fahrrad, öffnete das Tor und schob es bis zu dem Schuppen hinter der imposanten Villa, die noch aus der Kaiserzeit stammte. Dabei wünschte ihm der Gärtner einen guten Tag. "Sagen Sie, Michael, ist mein Vater zu Hause?", fragte Ludwig ihn, als er das Rad im Schuppen verstaute. "Der Herr Doktor ist vor einer halben Stunde hier eingetroffen und nimmt nun wohl seinen Tee zu sich", antwortete der Gärtner. Ludwig bedankte sich, schloss die Vordertür auf und betrat das Haus.
"Guten Tag, junger Herr", begrüßte ihn August, der Butler. Familie Monscher besaß zwei Hausangestellte - Michael, den Gärtner, der jeden dritten Tag für zwei bis drei Stunden kam und sich so was dazuverdiente, und August, der mit im Haus wohnte und kochte und sich um den Haushalt kümmerte. Die Erziehung von Ludwigs Mutter hatte nicht vorgesehen, dass sie die Pflichten einer Hausfrau übernehmmen sollte, und Herr Monscher war als Arzt oft außer Haus.
Ludwig hängte seinen Mantel auf, deponierte seine Schultasche neben dem Schreibtisch in seinem Zimmer und begab sich dann in den Salon, wo er seinen Vater Zeitung lesend mit einer Tasse Tee vor soch vorfand. "Ah, Ludwig", sagte er und sah von einem Artikel über erneute Ladenschließungen jüdischer Mitbürger auf. "Wie war der Vortrag?"
Ludwig nahm in einem Sessel neben seinem Vater Platz, und kurz darauf erschien August, um auch ihm eine Tasse Tee einzuschenken. "Sehr interessant", antwortete er. Herr Monscher sah Ludwig über den Rand seiner dünnen, rechteckigen Brillengläser hinweg an, als wolle er herausfinden, ob das nun ein schlechter Scherz oder bitterer Ernst war. Doktor Monscher sympathisierte überhaupt nicht mirt der Ideologie und den Vorgehensmaßnahmen der jetzigen Regierung, und er hoffte, dass sein Sohn in der Hinsicht gleicher Meinung war wie er.
"Nun, ich hatte eine sehr nette Unterhaltung mit dem Herrn Grafen - zu meiner Überraschung ist er tatsächlich sehr freundlich und offen. ich hatte noch ein paar Fragen zu dem Thema über das er referiert hat, und seine Antworten waren...mehr als aufschlussreich."
Herr Monscher sah Ludwig an. "Was willst du mir damit sagen, Sohn? Stellst du dich etwa auf die Seite dieser Leute?!" - "Ja", meinte Ludwig ruhig. "Wenn es sich um Leute wie Herrn Greifenstolz handelt, dann ja. Und ich stimme Dir politisch völlig zu."
Herr Monscher sagte eine Weile gar nichts und dachte über die Worte seines Sprösslings nach. "Junge...woher willst du wissen, dass er dir keine Falle stellt?" Ludwig seufzte. "Ich habe im Gefühl, dass ich ihm trauen kann, und mein Gefühl hat mich noch nie getäuscht. Ich werde es auf jeden Fall bald herausfinden - ich bin heute Abend bei ihm zum Essen eingeladen."
Doktor Monschers Augen weiteten sich! "Ludwig! Ich verbiete dir -" "Vater", unterbrach Ludwig ihn ruhig. "Die Wahrscheinlichkeit, bei der jetzigen politischen Lage zu sterben, ist extrem hoch. Eingezogen würde ich früher ofder später sowieso werden, denn genug Geld, um mich freizukaufen, hättest du leider nicht. Das wollte ich auch gar nicht. Sollte ich heute Abend feststellen, dass ich mich in Herrn Greifenstolz getäuscht habe, sterbe ich wenigstens bei dem Versuch, etwas Gutes für mein Volk zu tun."
Ludwigs Vater seufzte, nahm seine Brille ab und rieb sich angestrengt die Augen. Während sein Vater schwieg, trank Ludwig seinen Tee aus. Er konnte verstehen, dass sein Vater sich Sorgen machte, schließlich hatte er keine weiteren Kinder. Bei seiner Geburt hatte es offenbar Komplikationen gegeben, die es seiner Mutter unmöglich gemacht hatten, noch einmal zu empfangen.
Schließlich sah Alois Monscher seinen Sohn an und meinte: "Du musst wissen, was du tust...im Grunde weiß ich, dass ich dir eh nichts verbieten kann. Nur...wie soll ich das deiner Mutter erklären, wenn es schiefgeht?" -"Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen", meinte Ludwig, stand auf, und ging in sein Zimmer. Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch und holte einen Bogen Papier heraus. Er schrieb einen langen Brief an seine Mutter, in dem er ihr alles erklärte. Er wollte es seinem Vater ersparen, seiner Frau all dies selbst sagen zu müssen, sollte das Treffen schief gehen. Dann suchte er sich seinen besten Anzug heraus und zog sich um, bevor er wieder in den Salon ging und seinem Vater den Brief überreichte.
Gegen 18 Uhr klingelte es an der Haustür. Ludwig sagte seinem Vater noch schnell Bescheid, dass er nicht unbedingt zum Frühstück wieder da sein würde, und begab sich nach unten, wo ihn ein Chauffeur in Empfang nahm und ihn zu einem schwarzen Opel Mercedes geleitete.